Wie uns die digitale Kommunikation verändert
Ein Smartphone-Bildschirm ohne das kleine grüne Telefon in der Sprechblase? Schwer vorstellbar. Gerade bei jungen Menschen ist der Instant-Messaging-Dienst WhatsApp in unserem digitalen Zeitalter kaum aus dem Alltag wegzudenken. Laut Statista, einem deutschen Online-Portal für Statistik, nutzen im Jahr 2019 97 Prozent der 18- bis 29-Jährigen in Deutschland WhatsApp. Neue, digitale Medien haben einen wichtigen Platz eingenommen und verändern die unterschiedlichsten Lebensbereiche. So auch die zwischenmenschliche Kommunikation.
Von Michelle Christin List
Zu Besuch im Irish Pub
Einer, der diese Entwicklung seit Jahren beobachtet, ist Kevin Baumgärtner (31), stellvertretender Geschäftsführer im Irish Pub Heilbronn: „Die Kommunikation verändert sich sehr. Früher hat man sich Geschichten erzählt, die man selbst erlebt hat. Heute schaut man sich Videos von fremden Leuten an.“
Außerdem hatte er früher mehr Stammgruppen: „Damals war alles verbindlicher. Wenn man sich für Dienstagabend, 18 Uhr verabredet hatte, dann ist man auch aufgetaucht. Heute ist alles so extrem spontan und man kann noch fünf Minuten vorher absagen.“
Die Entwicklung zur immer schnelllebigeren Zeit bedauert Baumgärtner sehr: „Teilweise nimmt das richtig absurde Züge an.“ Ein Beispiel? „Wenn sich zwei Leute in einer Gruppe mögen, dann können sie nicht mehr offen flirten. Stattdessen tauschen sie heimlich Nachrichten über ihre Smartphones aus. Denn es soll ja niemand etwas davon mitbekommen, damit man sich alles offen halten kann und auch für andere Personen interessant bleibt.“
Hin und wieder denkt der Wirt darüber nach, den Weg „back to the Nineties“ einzuschlagen und einen Störsender in der Kneipe einzubauen. „Aber da würden sich die Geschäftsmänner wahrscheinlich bedanken.“
Manche Gäste kommen mit Smartphone-Problemen zum Wirt
Ob Baumgärtner den digitalen Medien auch etwas Positives abgewinnen kann? „Naja, Facebook ist als Werbeplattform sehr sinnvoll. Aber privat sehe ich darin keinen Sinn. Wozu muss ich wissen, was einer meiner Bekannten gerade in Honolulu erlebt? Das soll er mir dann erzählen, wenn wir uns sehen.“
Wer glaube, dass nur junge Leute ständig am Handy hängen, der irre sich: „Ich habe eine Kundin, die ist 79 und hat immer Probleme mit ihrem Smartphone“, sagt Baumgärtner. „Ich kann nicht mehr anrufen, nicht schreiben, es klingelt nicht mehr. Vorher hat es gezwitschert wie ein Vögele, jetzt kommt kein Ton mehr raus“, habe sie ihm die Situation schon oft panisch geschildert.
Ein geregelter Tagesablauf ohne Smartphone
Dann gibt es aber auch Pub-Besucher, bei denen das Smartphone keine Rolle spielt. Einer von ihnen ist Peter Achtau (67): „Ich nutze mein Handy nur zum Telefonieren, treffe Verabredungen meistens persönlich. Ich mag meinen geregelten Tagesablauf mit Zeit für mich. Wenn mir jemand etwas mitteilen will, dann kann ich das auch nach ein paar Stunden noch auf dem Anrufbeantworter abhören und dann reagieren.“
Langsamer und besser kommunizieren
Erst ein paar Stunden später auf eine Nachricht zu antworten, ist ein Tipp, den auch Jochen Lorenz, Mediator in Flein, seinen Klienten immer wieder ans Herz legt: „Viele dieser Mitteilungen werden kaum richtig gelesen und sofort beantwortet, um gleich wieder eine Antwort zu erwarten. Und je kurzatmiger das passiert, umso größer ist die Gefahr von Fehlinterpretationen. Dann wird in diesem Sinn sofort geantwortet und dann kann sich die Missverständnisspirale plötzlich ganz schnell drehen.“
Lorenz zeigt seinen streitenden Klienten sehr häufig, dass ihre verbale Kommunikation viel zu schnell läuft, und verlangsamt dann das Tempo drastisch. Das Ganze könne folgendermaßen aussehen: „Sie reagiert wütend. Dann soll er sich überlegen, was er ganz genau gesagt hat. Anschließend reflektiert sie, was hinter ihrer Reaktion steckt. Wenn ich so verlangsame, dann versteht sich plötzlich jedes Paar ganz anders.“ Seine Empfehlung lautet deshalb: „Immer, wenn es kritisch wird: Ganz langsam, sehr gut und alles zweimal lesen, Pausen einlegen, darüber schlafen und dann erst antworten.“
Nur für Kurznachrichten und positive Gefühle
Wirklich miteinander zu kommunizieren, darum geht es auch bei Erika Nester und ihren Klienten in der Paar- und Eheberatung: „Ich habe Paare, die streiten bis spät in die Nacht per WhatsApp. Denen bringe ich dann erst einmal wieder bei, miteinander zu kommunizieren. Also ein Zwiegespräch zu führen, in dem jeder seine Sprechzeiten hat.“ Immer wieder macht die psychologische Beraterin die Erfahrung, wie erleichtert beide sind, wenn sie sich mal wieder gehört fühlen. „Denn das Gefühl, wirklich gehört zu werden, verschwindet in der heutigen Zeit immer mehr.“
Grundsätzlich möchte Nester niemandem von solchen Instant Messengern abraten: „Um Kurznachrichten oder positive Gefühle mitzuteilen, sind diese Wege vollkommen okay. Aber auf gar keinen Fall für Rechtfertigungen oder Schuldzuweisungen.“
„Rattenschwanz“ der digitalen Kommunikation
„Das Auge-in-Auge-Gespräch ist der einzige wirkliche Kommunikationsweg“, sagt auch Nicole Winkler (51), Psychologische Beraterin in Heilbronn. „Um sich auf ein Bier zu verabreden oder um als eher schüchterne Person die erste Kontaktanfrage zu starten, kann WhatsApp ein richtig gutes Medium sein. Aber für Auseinandersetzungen ist es definitiv der schlechteste Weg.“
Nicht zu unterschätzen ist für Winkler auch der „Rattenschwanz“, den die digitale Kommunikation mit sich bringe: „Oft schaut ein Partner ins Handy des anderen und entdeckt Dinge, die nicht für ihn bestimmt sind. Das schürt ganz stark Konflikte und Missverständnisse.“ Denn in den seltensten Fällen seien dabei Sätze zu finden wie „Ich liebe dich. Toll war’s gestern Nacht“, sondern eher „Blöd, dass ich nicht da war. Schmeiß das Zeug in den Briefkasten.“
Ein weiteres Dilemma sei die Sache mit den blauen Haken: Immer wieder erlebe sie, dass Leute richtig sauer werden, wenn sie sehen, dass eine Nachricht gelesen, aber noch nicht beantwortet wurde. „Vielleicht ist der Empfänger gerade bei der Arbeit oder im Auto. Vielleicht muss er auch erst einmal über seine Antwort nachdenken. Aber der Sender der Nachricht deutet es dann sofort als Desinteresse. Die Wahrnehmung unterscheidet sich sehr. Das ist eine ganz große Kommunikationsschwäche und ein riesiges Streit-Potential.“
Im Übermaß wird das Smartphone zum Verhängnis
„Früher saßen wir im Kreis ums Feuer, später im Halbkreis um den Fernseher und jetzt alleine am Smartphone.“ Mit dieser Metapher bezeichnet Gabriele Stark (56), Leiterin der Psychologischen Familien- und Lebensberatung der Caritas Heilbronn, die digitale Entwicklung. „Gegen ein gesundes Mittelmaß spricht natürlich nichts. Aber im Übermaß wird das Smartphone genauso zum Verhängnis, wie es beim Essen, Rauchen oder Alkoholkonsum der Fall ist.“
Oft hat sie bei ihrer Arbeit mit getrenntlebenden Eltern zu tun. Dabei könne die Kommunikation über WhatsApp sowohl Vor- als auch Nachteile bieten. „Für manche ist die schriftliche Kommunikation hilfreich. Die Hemmschwelle ist geringer als beim Telefonieren, und die Absprache läuft sachlicher und distanzierter ab.“ Auf der anderen Seite könne so aber auch ganz schnell eine Schlammschlacht entstehen. „Ich zeig’s Ihnen“, sagen dann die Klienten zu Stark. Kurz darauf hat sie einen Chat-Verlauf unter der Nase, den sie als Betreuerin gar nicht sehen will.
Auch Eltern chatten „unter der Gürtellinie“
Mit unangenehmen Chat-Verläufen zwischen Eltern kennt sich auch Christoph Zänglein (60), Schulleiter des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums Heilbronn, aus: „Anscheinend nimmt der Stil der Kommunikation ab, je häufiger man in WhatsApp aktiv ist“, sagt er und denkt dabei an seine Zeit an einer Schule in Singapur: „Dort gab es sehr viele WhatsApp-Gruppen für Eltern. Und teilweise wurden mir dort Dinge gezeigt, die wirklich sehr unter der Gürtellinie waren.“
Und wie sieht es bei den Schülern aus? „Die Kommunikation hat schon sehr dadurch verloren, dass sie so schnell, aber nicht mehr in der Tiefe erfolgt.“ Bei seinen Schülern stellt Zänglein das auf unterschiedliche Weise fest: „Die Schriftsprache wird immer mehr verhunzt. Ich mache mich ja lächerlich, wenn ich Groß- und Kleinschreibung beachte oder nach Satzzeichen suche.“
Außerdem sinke die Hemmschwelle, sowohl zu physischer als auch zu psychischer Gewalt. „Die Kinder sehen im Internet so viele verstörende, gewalttätige Inhalte, lesen und schreiben Beleidigungen. Das wirkt sich auch auf die Kommunikation und das ganze Miteinander aus.“
Schulleiter rät zur Kontrolle
Das Thema Mobbing gab es zwar schon lange vor der digitalen Kommunikation, sei nun aber besonders tragisch: „Früher hat man als Lehrer direkt von der Auseinandersetzung mitbekommen. Jetzt dauert es viel länger, bis die Auffälligkeiten so groß sind, dass wir merken, dass da etwas im Busch ist.“
Zängleins Appell an die Eltern lautet deshalb immer wieder: „Kontrollieren Sie den WhatsApp-Verlauf Ihrer Kinder.“ Warum sich einige Eltern strikt dagegen wehren, kann der Schulleiter nicht verstehen: „Zu sagen, was meine Kinder bei WhatsApp machen, geht mich nichts an, ist falsch verstandene Freiheit, falsch verstandenes Vertrauen und völlig verantwortungslos.“
Medienkompetenz als moralische Verpflichtung
Im Normalfall herrscht auf dem Schulgelände Handyverbot. Mit Einverständnis des jeweiligen Lehrers dürfen die Handys aber im Unterricht verwendet werden, um beispielsweise Fremdwörter nachzulesen. „Da müssen die Schüler ja kein schweres Lexikon mit sich herumschleppen. Das wäre absolut nicht zeitgemäß“, sagt Zänglein. „Es ist unsere moralische Verpflichtung, dass die Schüler Medienkompetenz lernen. Dazu gehört aber auch, Regeln für den Umgang damit zu finden und Schüler dazu zu bringen, sich daran zu halten.“
Kombination aus alt und neu
Johannes Schlund, Fachbereichsleiter Berufliche Gymnasien an der Akademie für Kommunikation in Heilbronn, begrüßt digitale Medien als Ergänzung zum normalen Unterricht: „Ich arbeite gerne mit QR-Codes, das spart Papier. Durch InDesign oder Photoshop lernen die Schüler neue Kompetenzen.“
Übertreiben sollte man es seiner Meinung nach aber nicht: Von WhatsApp-Gruppen zwischen Schülern und Lehrern hält Schlund wenig: „WhatsApp ist für mich eine Freizeitbeschäftigung und nicht für Institutionen. Dort bevorzuge ich auf jeden Fall offizielle Kanäle wie den Infobrief.“ Und er ergänzt: „Es muss auch nicht sein, dass alle Schüler Tablets haben. Das klassische Schulbuch hat nach wie vor seine Berechtigung. Am besten ist eine sinnvolle Kombination aus alt und neu.“